Julia Stoschek FoundationSeit Lynn Hershman Leeson sitzen wir alle im Video-Beichtstuhl

Lesezeit 4 Minuten
Auf mehreren Bildschirmen ist das Bild einer Frau zu sehen.

Lynn Hershman Leesons Installation „CyberRoberta“ von 1996 ist derzeit in der Julia Stoschek Foundation Düsseldorf zu sehen.

Die mediale Nabelschau begann mit der frühen Videokunst, wie eine Ausstellung in der Düsseldorfer Stoschek Foundation zeigt.

Roberta Breitmore machte den Führerschein, mietete eine Wohnung, eröffnete ein eigenes Bankkonto und ging zum Psychiater. Sie schrieb Tagebuch und Briefe, machte Fotos, schminkte und kleidete sich sorgfältig, toupierte die Haare. Sie sah aus, wie eine Frau in den Siebziger Jahren in Amerika eben so aussah. Sie lebte und bewegte sich in der wirklichen Welt, tatsächlich aber existierte sie lediglich als Performance, als anverwandelte Identität. Die Kunstfigur Roberta Breitmore (1973-1978) ist wohl die bekannteste Werkreihe der amerikanischen Medien-, Film- und Installationskünstlerin Lynn Hershman Leeson (geboren 1941 in Cleveland, Ohio).

Seither sind die Konstruktion von Identität, das Schwinden von Privatsphäre und die Überwachung unseres Lebens sowie die Verschiebung von Machtverhältnissen die immer wiederkehrenden Themen in Hershman Leesons Kunst. Auch die Beziehung zwischen Technologie und dem eigenen Selbst treibt sie von Beginn an um. Neben der Zurschaustellung als Roberta waren es anfangs Zeichnungen, Gemälde und Collagen, in denen sie das Verhältnis des menschlichen Körpers und mechanischer Hilfsmitteln künstlerisch verhandelte. Sie schuf Wachsskulpturen, Videos, benutzte Laser, Webcams, KI und seit einiger Zeit und in Kollaboration mit Wissenschaftlern geht es auch um DNA-Systeme. Hellsichtig hat sie Einfluss und Macht, den die elektronischen Medien auf und über unser Leben haben werden, vorhergesehen und in ihrer Arbeit mitgedacht.

Lynn Hershman Leeson spricht über traumatische Ereignisse, über Krankheit, Missbrauch und Ängste

Sie ist dabei neue Wege gegangen, hat neben fremden Identitäten auch alternative Ausstellungsorte (z.B. ein Hotelzimmer) und Präsentationsformate erschlossen, hat fiktionale und dokumentarische Ansätze miteinander verschränkt.

Irgendwann aber wird es persönlicher. Und es wird ernster, der Blick geht tiefer ins Private und Intime, gleichzeitig mischt sich die Weltgeschichte in die Tagebuchaufzeichnungen ein, Perspektivwechsel offenbaren Widersprüche. Wiederholungen und Überblendungen unterstreichen tendenziell die Fragwürdigkeit der Authentizität der Bilder. Fragen drängen sich auf. Gibt es überhaupt Identität, die eindeutig ist? Was macht das mediale Bild mit der Realität, wie wirkt es auf diese zurück?

Auf einem Tisch steht eine kleine Vase mit zwei Mini-Ananas an langen Stängeln.

Wolfgang Tillmans' „LA still life“ gehört zu den „Digital Diaries“ in der Stoschek Foundation

„The Electronic Diaries of Lynn Hershman Leeson 1984-2019“ ist Ausgangs- und Knotenpunkt der neuen Ausstellung „Lynn Hershman Leeson: Are Your Eyes Targets?“ in der Julia Stoschek Foundation in Düsseldorf.  Die große Sechs-Kanal-Videoinstallation ist ein schon Jahrzehnte währendes Projekt über ihr eigenes Leben, aufgezeichnet auf Video. Hier spricht sie über traumatische Ereignisse, über Krankheit, Missbrauch und Ängste; und so dienen die offenen und öffentlichen Betrachtungen der eigenen Beschädigungen wohl ein bisschen auch als Therapie. Wie ein Tagebuch eben, nur dass wir alle nun offiziell teilhaben und auch unsere voyeuristischen Begierden ausleben können. Es sei ihr wichtig, so die Künstlerin, „selbstbestimmt das eigene Narrativ zu gestalten“ und die eigene Geschichte selber zu erzählen.

Die Mixed-Media-Skulptur „Paranoid“ ihrer Werkreihe „Breathing Machines“ (1965-2022) beginnt irgendwann mit den sich nähernden BesucherInnen zu interagieren. Man hört die Künstlerin atmen, die Arbeit spricht mit uns: „Warum siehst Du mich so an?“, „Hör auf, mich anzuschauen.“ „Go, look at yourself!“

Wolfgang Tillmans melancholische Fotoarbeit „L.A. still life“ ist ein Ruhepunkt der Ausstellung

Parallel zeigt die JSF die Gruppenausstellung „Digital Diaries“ mit sechzehn künstlerischen Positionen, die sich alle auf die ein oder andere Weise ebenfalls mit persönlichen (Tagebuch)-Aufzeichnungen befassen. Etwa Sophie Calles Videoarbeit „Double Blind“ (1992), in der sie und ihr damaliger Partner sich während einer USA-Reise gegenseitig filmen. Jeder hat einen eigenen Blick auf diese Reise. In der Schuss-Gegenschuss-Präsentation wird dies überdeutlich und enthüllt zudem eine sich entfaltende Machtdynamik, die auch mit dem „Instrument männlicher Macht im Bereich des Visuellen“ zu tun hat. Ein Phänomen, das mehrere Arbeiten der Schau untersuchen: Hannah Wilkes Arbeit „Intercourse with...“ (1978), Frances Starks  Online-Gespräche auf einer Dating App: „Nothing is Enough“ (2012) oder Kristin Lucas Videoarbeit „Host“ (1997).

Jota Mombacas „What Has No Space Is Everywhere“ (2020-2021) ist kurz nach der Covid-19-Pandemie entstanden und verarbeitet Selfies aus verschiedenen Etappen ihres Lebens zu einem dichten Netz aus Bild und Ton, in dem auch Bekenntnisse zu Einsamkeit und Depression nicht fehlen. Ganz anders Alex Ayeds kleines poetisches Tagebuch „Untitled (poems)“ (2023), das er digital von seiner Segelschiff-Reise in den Ausstellungsraum übermittelt. Der kleine graue Briefkasten mit ein paar Fundstücken ist ein wirklicher Ruhepunkt dieser Ausstellung. So wie auch Wolfgang Tillmans ein bisschen melancholische Fotoarbeit „L.A. still life“. Das Bild von 2001 wirkt wie ein zufrieden entspannter Blick zurück: Ja, es war eine gute Zeit damals.

In einem kleinen Seitengang oben nimmt Lynn Hershman Leesons interaktive Installation „CyberRoberta“ (1996) die fiktive Persona der Roberta Breitmore in Form einer Puppe wieder auf. In deren Augen sind Mini-Kameras integriert, die nicht nur uns beim Betrachten genau betrachten, sondern die Bilder gleich ins Netz weiterleiten. CyberRoberta blickt uns an - und mit ihr die ganze Welt.


„Lynn Hershman Leeson: Are Our Eyes Targets?“ und „Digital Diaries“, Julia Stoschek Foundation, Düsseldorf, bis 2. Februar 2025, Sa.-So. 12-18, jeden ersten Donnerstag 18-22.

KStA abonnieren